Ein Missverständnis muss vorab aus dem Weg geräumt werden: „Schwerhörige sind keine Gehörlosen.“ Das sagt Harald Tamegger, Geschäftsführer des Wiener Schwerhörigenzentrums VOX. Die Unterscheidung ist ihm wichtig, da beide Gruppen zwar vor teilweise ähnlichen Problemen stehen, aber total unterschiedliche Bedürfnisse haben. „Bei uns beherrscht zum Beispiel kein Mitglied die Gebärdensprache. Muss auch keiner, denn alle hier können unter bestimmten hörtaktischen Voraussetzungen normal lautsprachllich kommunizieren.“ Bei VOX bekommen Menschen, die schlecht hören – ganz egal ob von Geburt an oder erst im Alter – jede Art der Information und Hilfestellung. „Wir sind einer der ältesten Vereine Österreichs, es gibt uns bereits seit 1913“, erzählt Tamegger. „Seit dem Jahr 2001 betreiben wir ein von der Stadt Wien gefördertes Beratungscenter, wo wir jährlich rund 1800 Menschen kostenlos beraten.“
Technischer Fortschritt
In Österreich sind rund 1,6 Millionen Menschen von Schwerhörigkeit betroffen. Bei den Über-65-Jährigen schätzt die Weltgesundheitsorganisation den Anteil auf nicht weniger als 50 Prozent. Die Zeiten, in denen Schwerhörigkeit ein großes gesellschaftliches Stigma war, sind allerdings weitgehend vorbei. Seniorinnen und Senioren finden heute zweifellos einen leichteren Übergang in die Periode der Altersschwerhörigkeit als früher. Was ist dafür verantwortlich? Zum einen ist es wohl der enorme technische Fortschritt im Bereich der Hörgeräte. Die Apparate sind heute leistungsfähiger, kleiner und bequemer zu tragen als noch vor 30 Jahren. Hinter dem Ohr sitzende Geräte fallen oft gar nicht mehr ins Auge. Geräte, die vollständig in der Ohrmuschel versenkt werden können, erleben zurzeit einen starken Aufschwung. Selbst vielen stark schwerhörigen oder vollständig ertaubten Menschen kann heute mit Cochlea-Implantaten, bei denen die münzgroße Sendespule als auffälligster Geräteteil am Hinterkopf sitzt, eine völlig neue Lebensqualität eröffnet werden.
Doch der technische Fortschritt alleine schafft keine gesellschaftliche Veränderung. Es sind Vereine wie VOX, die das leisten. Hier tauschen sich die Betroffenen aus, tanken Selbstbewusstsein für ihren Alltag. Von hier aus wird die Öffentlichkeit sensibilisiert für das Thema. Und es wird Druck gemacht nach oben, in Richtung Politik und Behörden.
Induktives Hören
Was das alles in der Praxis bedeutet, versteht man besser, wenn man Jörg Fehringer zuhört. Von Geburt an schwerhörig, trägt Fehringer seit seinem 14. Lebensjahr eine Knochenleitungs-Hörbrille. Zu VOX ist er erst viel später im Leben gestoßen: „Als ich das erste Mal hierher gekommen bin, wurde ich nicht nur herzlich empfangen, ich wurde in das ganze Wissen, das es rund um Schwerhörigkeit gibt, eingeweiht. Es hat mein Leben enorm bereichert – sowohl auf sozialer Ebene als auch was den ganz praktischen Umgang mit der Technik betrifft. Ein echter Aha-Moment war für mich dabei das Thema Induktion. Plötzlich öffneten sich Möglichkeiten, von denen ich vorher gar nicht wusste.“
Die Induktionstechnologie ist eine der wichtigsten Stützen von Hörgeräte-Trägern im öffentlichen, aber auch im privaten Umfeld. Drahtschleifen, die meist entlang der Wände eines Raumes verlegt werden, erzeugen ein schwaches elektromagnetisches Feld, über das kabellos Signale an Hörgeräte übertragen werden. Das kann die Lautsprecherdurchsage im Bahnhof sein, das kann der – mit Mikrofon gehaltene – Vortrag bei einer Konferenz sein, das kann der Fernseher im eigenen Wohnzimmer sein.
Das induktive Hören hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert und erleichtert zigtausenden Hörgeräte-Trägern in Österreich das Leben. Viele öffentliche Gebäude wurden in den letzten 10 Jahren mit Induktionssystemen ausgestattet: Museen, Banken, Universitäten, Theater. Aber auch viele private Geschäfte wie zum Beispiel Apotheken rüsten nach. „Der große Fortschritt in diesem Bereich ist zweifellos unserem Dachverband, dem Österreichischen Schwerhörigenbund (ÖSB), zu verdanken“, sagt Harald Tamegger. „Gemeinsam mit seinen Mitgliedervereinen hat der ÖSB dafür gesorgt, dass akustische Barrierefreiheit in die Köpfe der Verantwortlichen vorgedrungen ist und tatsächlich laufend umgesetzt wird. Wir sind noch lange von einer großflächigen Abdeckung entfernt, aber auf einem guten Weg.“
Leider gibt es ein großes Aber zur Erfolgsgeschichte: „Die meisten Hörgeräte am Markt sind mit einer sogenannten Telefonspule ausgestattet, die zum Empfang des Induktionssignals notwendig ist. Wir stellen allerdings fest, dass Akustiker ihre Kunden viel zu selten darauf hinweisen, dass es diese Technik gibt. Oft genug raten sie den Kunden sogar explizit davon ab, als sei diese Funktion zu kompliziert oder nicht notwendig. Dabei ist es ein Hakerl, das man beim Einrichten des Hörsystems am Bildschirm aktiviert, und schon läuft es.“ Jörg Fehringer bestätigt diese Erfahrung: „Bevor ich zu VOX kam, wusste ich nicht, dass ich zum Beispiel Kinofilme direkt über das Hörgerät anhören kann.“
Steigende Akzeptanz
Fehringer hat als Mitglied bei VOX selbst Verantwortung übernommen und leitet seit kurzem eine Selbsthilfegruppe nur für Männer. „Es gibt einfach Dinge, die besprechen betroffene Männer lieber unter sich“, erklärt Fehringer. „Da geht es zum Beispiel auch um verschiedene hörgerätetechnische Feinheiten, für die sich Frauen einfach weniger interessieren, die uns Männern aber wichtig sind.“
Die Gesellschaft sei heute viel mehr sensibilisiert als früher, stellt Fehringer fest. Die allgemeine Akzeptanz gegenüber schwerhörigen Menschen sei größer geworden. „In meiner Schulzeit wurde ich als schwerhöriges Kind noch gemobbt“, erinnert er sich. Harald Tamegger zieht einen Vergleich, der Hoffnung macht: „Vor ein paar Jahrzehnten war es auch noch ein Makel, eine Brille zu tragen. Das ist heute undenkbar. Die Brille ist ein modisches Accessoire geworden. So weit sind wir beim Hörgerät noch nicht, aber es geht in eine gute Richtung.“
In diesem Sinne versteht sich auch der Verein VOX nicht mehr so sehr als Schutzpatron gesellschaftlich Ausgegrenzter, erzählt Geschäftsführer Tamegger, sondern als Förderer von mündigen, selbstverantwortlichen Menschen mit Hörbehinderung. „Die Entscheidung, welches Hörgerät man sich anschaffen soll, ist eine sehr indivduelle“, gibt Tamegger ein konkretes Beispiel. „Hörgeräte gibt es in verschiedenen Bauformen mit verschiedenen Funktionen, und nicht immer ist das Teuerste auch das Beste. Jeder erwachsene Mensch, der schwerhörig wird, sollte sich gut informieren, welches Hörgerät zu ihm passt, welches ihm am meisten nützt. So wollen auch die meisten unserer Kunden einfach nur eine konkrete Beratung, meist technischer Art. Sie meistern ihren Weg dann alleine und selbstbestimmt.“
Zwei Erfahrungsberichte
So zum Beispiel Maria Haupt: Die 80-jährige Pensionistin legte sich vor sieben Jahren nach dem Besuch beim HNO-Arzt und einem Beratungsgespräch bei VOX ein standardmäßiges „Hinter-dem-Ohr“-Gerät zu. Sie trägt es noch immer. Zusatzfunktionen wie Fernsehen über Induktion oder Telefonieren über Bluetooth waren für sie nie relevant, erzählt die Wienerin. „Es geht mir darum, dass ich das Gerät einfach bedienen kann. Ich weiß, wo die Regler für lauter und leiser sind. Ich weiß, wie man die Batterie wechselt. Mehr brauche ich nicht.“ Anderen Betroffenen von Altersschwerhörigkeit rät Haupt: „Man sollte den Schritt zum Hörgerät nicht hinauszögern, sich nicht einreden, dass es schon irgendwie ohne gehen könnte. Man muss sich ans tägliche Hantieren mit dem Gerät ja gewöhnen, solange man noch einigermaßen geistig fit und lernbegierig ist.“
Rudolf Posch hingegen hat sich die Welt der Hörgeräte mit der Akribie eines Doktors der Technik angeeignet. Als der heute 77-Jährige vor einigen Jahren bemerkte, wie ihm die hohen Töne fast völlig abhanden kamen, wusste er nach umfassenden Recherchen und Beratungsgesprächen sehr genau, welche Art von Hörgerät er wollte. Sein Gerät besitzt einen Receiver-In-Ear, das heißt, der Schall wird erst im Ohr selbst erzeugt statt im hinter dem Ohr sitzenden Geräteteil und bekommt dadurch einen natürlicheren Klang. „Den Ton des Fernsehers höre ich über einen Bluetooth-Stream direkt am Hörgerät“, sagt Posch. „Auch Telefonieren oder Musikhören geht damit völlig problemlos und komfortabel.“
Gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, was den Umgang mit dem Hörgerät betrifft? „Frauen sorgen sich im allgemeinen mehr um ihre Gesundheit, Männer mehr um ihre Schönheit“, vermutet Maria Haupt schmunzelnd. „Das stimmt vielleicht auch bei der Frage des Hörgeräts: Frauen bekennen sich eher dazu, viele Männer versuchen es zu verstecken.“
Ja, das kennt er, sagt Jörg Fehringer. Es gebe noch immer zu viele Menschen, die sich dafür genieren, schwerhörig zu sein. Unter anderem deswegen hat er bei VOX eine eigene Laufgruppe mit ins Leben gerufen: „Alle zwei Wochen treffen sich Vereinsmitglieder und gehen miteinander joggen. Die sportliche Betätigung tut uns gut. Aber noch wichtiger ist die Botschaft: Wir ziehen uns nicht zurück. Wir gehen raus.“
VOX – Schwerhörigenzentrum Wien
Sperrgasse 8-10, 1150 Wien
www.vox.or.at
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Der Artikel erschien in der Wiener Zeitung in der Beilage "PLUS GESUNDHEIT" am 22.11.2019. Fotos Copyright Cristoph Liebentritt (c)2019. Wir danken Hr. Clemens Stachel, dass wir den Beitrag auch online stellen dürfen.